"ANARCHIE! Idee - Geschichte - Perspektiven" von Horst Stohwasser



Was ist Anarchie?

Die meisten werden jetzt sicherlich antworten wollen: Chaos. Das Recht des Stärkeren. Unordnung. Zerstörung. Vandalismus. Gewalt.

Damit werden die Anarchisten nicht erst seit den ausufernden Gewaltdemos des autonomen Schwarzen Blocks in Verbindung gebracht, sondern schon seit Ende des 19. Jahrhunderts als die Anarchisten glaubten die innere Wandlung des Systems und des Menschen mit Gewalt erzwingen zu können. Der Bomben werfende, schwarz-rote Zwerg ward geboren und mit ihm die schönsten Schauergeschichten für das bürgerliche Lager.

Das alles hat allerdings nichts mit Anarchie zutun, sondern eher etwas mit den Irrwegen des menschlcihen Geistes. Was ist also Anarchie? Kurzum: Solidarität, Nächstenliebe, selbstbestimmtes Handeln, Herrschaftslosigkeit oder noch viel plakativer ausgedrückt "Ordnung ohne Herrscher".


In seinem Buch "ANARCHIE! Idee - Geschichte - Zukunft" erklärt der überzeugte Anarchist und Sozialwissenschaftler Horst Stohwasser das alles nicht nur, er macht es auch greifbar für all diejenigen, die sich ganz einfach noch nie mit Anarchismus beschäftigt haben. Dabei ist er Feuer und Flamme mit diesem Thema, das ihm seit seinen Jugendjahren so am Herzen liegt. Er schreibt spitz, spritzig, witzig, informativ, nachdenklich und übt dabei nicht nur plumpe Kritik an dem bestehenden Herrschaftssystem der "Gewalt über den Menschen", die das Ziel hat den Mensch nach und nach zu entmenschlichen, um am Ende zu einer seelenlosen Maschine zu werden - dem Patriachiat und dem Kapitalismus. Nein, er klopft auch insbesondere den heutigen Anarchisten gehörig auf die Finger. Doch immer schön der Reihe nach.

Das Buch beginnt mit einer sehr komplexen Erörterung der anarchistischen Theorien und Lebensmodelle. Was ist Anarchie? Was ein Anarchosyndikat? Was wollen die Anarchisten? Worin bestehen die großen Chancen des Anarchismus, worin die Gefahren? Wie stellt sich das alles im geschichtlichen Zusammenhang dar? Letzteres nimmt den gesamten Mittelteil ein. Er zeichnet den Weg der liberitären Ideen von der Antike bis ins heute nach. Das Hauptaugenmerk liegt dabei insbesondere auf der Zeit nach der französischen (1788/89) und deutschen Revolution (1848) bis zum Beginn des ersten (1914) und zweiten Weltkrieges (1939). Sowie den ideologischen Grabenkämpfen in der Internationalen, die besonders zwischen Karl Marx und Michail Bakunin äußerst heftig waren. Und an dieser Stelle erzählt Stohwasser auch die weniger bekannten Seiten des Machtmenschen Marx und der aufkommenden Bolschewikibewegung, die Bakunin bereits vor deren Machtergreifung in Russland in Verbindung mit Marx‘ autoritärem Sozialismus als „neue Dimension des Terrors“ bezeichnete. Der berühmteste Anarchist seiner Zeit (der neben Kropotkin auch Landauer inspirierte) sollte auf schaurige Art und Weise Recht behalten.

Die Abschnitte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind vor allem ein beeindruckendes Potrait einer Zeit aus der hätte so viel mehr erwachsen können. Der weltweit aufkommende Faschismus jedoch hinterließ überall verbrannte Erde und vernichtete eine ganze Generation von pragmatischen wie theoretischen Denkern unter den Anarchisten. Viele von ihnen wurden in den KZs und Gulags ermordet und wer überlebte erwachte in einer Welt, die erschreckend inhaltslos schien. Seitdem befinden sich Anarchisten auf der ganzen Welt auf der suche nach neuen Lösungen. Was nicht einfach ist weil bis heute viele lieber Bakunin, Landauer oder Ghandi hinterher trauern als den Blick in die Zukunft zu richten. Die Bewegung versank lange in depressiver Nostalgie. Erst mit den 68ern erwachte sie allmählig wieder, konnte jedoch nie wieder zu alter Stärke zurückfinden.

Von daher ist Stohwassers Buch auch ein Manifest dafür wie Tief die Wunden sind, die der Faschismus auf der Welt hinterlassen hat. Nicht nur die menschlichen Opfer beklagt er, sondern vor allem auch die geistigen. Egal ob in Hitlers Deutschland, Frankos Spanien, Mossulinis Italien oder Stalins Russland – die intelektuellen Väter einer ganzen Welt wurden auf einen Schlag ausgelöscht und was blieb war die düstere Leere eines Sterbenden.

So ist es wenig verwunderlich, dass sich neben den pazifistischen Graswurzelbewegungen auch militante Organisationen wie die RAF und Black Block bildeten, die in den 70ern und 80ern vor allem schaurige Bilder der Zerstörung für die bürgerlichen Medien lieferten – bewegt haben diese autonomen Milizen jedoch nahezu nichts! 

Bis heute spaltet sich der Anarchismus daher in die Militanten, die Bauzäune niederreißen, an Castorstrecken schottern und Polizisten mit Steinen bewerfen, jedoch sobald der Geruch von Tränengas verflogen ist fallen diese Bewegungen in ihrer „revolutionären Energie“ quasi sofort in sich zusammen, da diese über den Augenblick des Aufstandes nicht hinaus reicht. 

Stohwasser wird daher nicht müde zu betonen wie wichtig die „Revolution von Innen“ ist, d.h. dass man Menschen nicht mit Gewalt zur Anarchie zwingen kann, zumal dieses Vorgehen ohnehin absolut unanarchistisch ist und diese Leute genauso gut weiterhin in einer Herrschaftsgesellschaft leben könnten.
Diese innere Revolte kann jedoch nur gelingen, wenn man andere Menschen ansteckt. Das es funktioniert hat die Geschichte bewiesen. Etwa als in der Spanischen Revolution fast halb Spanien unter Selbstverwaltung stand und viele Menschen dort bis heute – trotz der Vernichtung der Anarchisten und damit auch der befreiten Gebiete durch Franko – gute Erinnerungen an die Anarchie hegen. Denn anarchistische Selbstverwaltung funktioniert, insofern sie nicht von Unternehmern und Staat blutig niedergeschlagen wird. Was bis jetzt leider immer der Fall war.

Die Frage, die Stohwasser letztendlich stellt heißt doch im Grunde: War die Welt einfach noch nicht reif für den Anarchismus? Möglich. Sind liberitäre Thesen mittlerweile doch auch in den Mainstream-Medien und somit beim bürgerlichen Lager angekommen. Z.T. hat man das den Grünen zu verdanken, die einst als verlängerter Arm der Graswurzelbewegung antraten, mittlerweile jedoch zu ähnlicher Gleichmacherei wie alle anderen Parteien neigen. 

Denn in Zeiten von Klimawandel und sozialen Eisbergen werden so einige Thesen Bakunins und Kropotkins plötzlich wieder modern. Sei es nun durch die Einrichtung freier Schulen oder durch ökologische Nachhaltigkeit in der Produktion. Das alles macht noch lange keinen Anarchismus, sondern eher grünen Kapitalismus, doch es ist ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg. Denn das der Kapitalismus nicht mehr funktioniert, das dürften mittlerweile genug Menschen begriffen haben. Das Problem ist eher, dass die Anarchistischen thesen im Mainstream zuwenig verbreitet sind und das Klischee des schwarz-roten Zwerges mit der Bombe dank der Antifa - die einen Klassenkampf führt, den es quasi gar nicht mehr gibt! - wohl noch überdauern wird. Leider.

Denn in der Anarchie geht es um Solidarität und neuen Formen des Zusammenlebens - mit uns und unserer Umwelt gleichermaßen. Und sie ist die womöglich einzige Alternative zum unmenschlichen Raubkapitalismus und den sozialitischen Diktaturen.