Sergej Lukianenkos "WÄCHTER"-Zyklus

Der russische Autor Sergej W. Lukianenko ist in seiner Heimat populärer als J.K. Rowling oder J.R.R. Tolkien. Seine Bücher wurden mehrfach preisgekrönt und die Verfilmung seines Romans "Wächter der Nacht – Nochnoi Dozor" war der erfolgreichste, russische Film aller Zeiten. Doch wer ist dieser Lukianenko überhaupt?

Sergej Lukianenko wurde 1968 in Kasachstan geboren und studierte später Medizin in Alma-Ata (das heutige Almaty) - aus der Familientradition heraus. Danach arbeitete er Jahre lang als Psychiater in Moskau. Das Schreiben von Fantasy- und Sci-Fi-Romanen stellte für ihn eine Nebenbeschäftigung dar. Von seinen Büchern konnte er nach einiger Zeit nicht schlecht leben und so entschied er schließlich sein leidenschaftliches Hobby zum Beruf zu machen – wovon seine Eltern alles andere als begeistert waren.
International bekannt wurde Lukianenko jedoch durch seinen "Wächter"-Zyklus – bestehend aus "Wächter der Nacht", "Wächter des Tages", "Wächter des Zwielichts", "Wächter der Ewigkeit" und "Wächter des Morgens"




Im "Wächter"-Zyklus geht es um die ewige Konkurrenz zwischen zwei Magierorganisationen; den "Wächtern der Nacht" und den "Wächtern des Tages".

Die Magier, genannt "die Anderen", saugen ihre Kraft entweder aus dem Dunkel oder dem Licht ab. Das Licht ist die absolute Rechtschaffenheit, die Selbstaufopferung und moralische Korrektheit. Das Dunkel besteht aus Egoismus, Unmoral und tierischen Trieben.

"Seit Anbeginn der Menschheit gibt es die Anderen unter uns. Auch sie sind Menschen, aber mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Hexen, Zauberer, Formwandler – Ihre Vielfalt ist so groß wie die Sterne am Himmel. Die Anderen sind Soldaten im ewigen Krieg, dem Kampf zwischen der Finsternis und dem Licht. Die Krieger des Lichts schützen die Menschen vor den Kriegern der Finsternis, die die Menschen foltern und quälen. Die Legende berichtet, dass beide Heere eines Tages auf einer Brücke aufeinander trafen.
Gesar, Lord des Lichts, und Sebulon, Herr der Finsternis, standen einander gegenüber; und keiner von beiden wollte weichen.Und es begann eine große Schlacht – blutig und ohne Gnade. Sabulon ergötzte sich an dem Gemetzel, aber Lord Gesar weinte.
Und als die Schreie der Sterbenden zum Himmel aufstiegen erkannte Gesar, dass beide Armeen gleich stark waren und wenn niemand der Schlacht Einhalt gebieten würde, würden alle zu Grunde gehen. Und so hielt er die Schlacht an.
Und die Mächte des Lichts und der Finsternis schlossen einen Waffenstillstand. Gesar sprach für das Licht und Sebulon sprach für die Finsternis und Folgendes wurde vereinbart: Jeder Mensch sollte frei wählen können zwischen Licht und Finsternis. Die Krieger des Lichts sollten "Wächter der Nacht" heißen und dafür sorgen, dass die dunklen Andren das Abkommen einhalten. Und die Krieger der Finsternis sollten "Wächter des Tages" heißen und das Selbe tun. Und so sollte das Gleichgewicht für Jahrhunderte gewahrt bleiben."


(Zitat aus der "Wächter der Nacht"-Verfilmung von Timur Bekmambetov)


Lukianenkos Bücher sind jedoch völlig anders, als man es als Europäer vielleicht erwarten würde. Bei ihm vereinen sich Urban Fantasy und Punk mit kritischer Gesellschaftsstudie und klassischen Märchen und Legenden. Lukianenko verzichtet dabei auf eine blumige Sprache, wie sie in vielen westlichen, tolkieninspirierten Fantasywerken zu finden ist. Lukianenkos Worte sind klar, deutlich, unverblümt und voller unglaublicher Menschenkenntnis, kombiniert mit einem wahrhaft erfrischenden Sarkasmus.


In seinem "Wächter"-Zyklus bedient er sich zwar auf den ersten Blick klassischen Motiven und Kreaturen wie Vampiren, Werwölfen und Hexen, doch kombiniert er diese mit einem für das Genre ungewöhnlichen, beinah wissenschaftlichen Realismus.
So gibt es in seinen Büchern immer wieder pseudo-naturwissenschaftliche Erklärungen für das Funktionieren von Magie oder dem veränderten Stoffwechsel von Vampiren, der diese gegen Alkohol allergisch macht. Vor allem zu den Vampiren weiß Lukianenko immer wieder Neues zu berichten. Auffällig dabei ist, dass er sich ganz bewusst von dem romantischen Bild des Vampirismus löst. Wohl auch weil Bram Stoker laut Lukianenko selbst ein Vampir war, der mit seinem Dracula die Menschen so in die Irre führen wollte, dass diese sich nicht mehr effektiv gegen echte Vampire zur Wehr zu setzen wussten. (Vergesst also Kruzifix, Pfähle und Knoblauch, denn die funktionieren nicht!) Lukianenkos Vampire sind verfluchte und durchtriebene Seelen, die von ihrem ewigen, unstillbaren Hunger getrieben werden.
Und genau hier setzt auch ein bürokratischer Realismus bei den "Wächtern" an. So müssen gesetzestreue Vampire lizenziertes Spenderblut oder eine offizielle Jagdlizenz auf Menschen beantragen. Und selbst der Heilmagier oder Alchimist von Nebenan muss sein Handwerk erst offiziell melden, wenn er nicht in die Illegalität rutschen will. Na toll, da ist man schon mal Zauberer und dann bleibt man trotzdem nicht vom Papierkram in fünffacher Ausfertigung verschont!


Ebenfalls für phantastische Literatur eher ungewöhnlich sind die zahlreichen in den Büchern enthaltenen Songtexte von russischen und internationalen Bands wie Piknik, Woskressenje, Splin, Blackmore’s Night, Rammstein und auch Zitate aus Werken von Edgar Allen Poe sind keine Seltenheit. Fast genauso viel zitiert sind in Lukianenkos Büchern immer wieder gern Filme von Star Wars über den Herrn der Ringe und Harry Potter bis hin zu klassischen, russischen Volksmärchen wie die Erzählungen über die Hexe Baba-Jaga. Dabei ist ihm immer wieder anzumerken, dass er auch leidenschaftlich gern Computerspiele spielt. (Allen voran Rollenspiele.) Gerade die Art und Weise wie die Magierduelle beschrieben werden erinnern Teils stark an die klassischen "Dungeons & Dragons"-Rollenspiele. Eine derartige Verknüpfung von Literatur, Musik, Film und Computerspiel wird man bei kaum einen anderen Autoren so stark finden wie bei Lukianenko. Somit kann man gutes Gewissen behaupten, dass seine Bücher multimedial sind. 


Doch nicht nur diese Zitateflut machen die Bücher so lesenswert, sondern auch der sozialpolitische Kontext. Im Grunde sind die "Wächter"-Romane Bücher über den Kalten Krieg, in dem zwei, große Geheimdienste gegeneinander Kämpfen, wobei der eine natürlich immer behauptet besser als der andere zu sein. Die Ziele und Methoden der Dunklen und Lichten sind dabei gleichermaßen übel – egal auf welcher Seite die Protagonisten letztendlich stehen. Ebenso thematisiert wird die Wandlung der russischen Gesellschaft. Da gibt Nostalgiker wie den leicht naiven Anton Gorodetsky – den Hauptprotagonisten aller 5 Bücher –, der sich insgeheim immer einwenig nach den sozialistischen Zeiten der UdSSR zurückseht. Damals als es noch keine Globalisierung gab und immer nur eine Sorte Limonade im Regal stand. Im krassen Gegensatz dazu stehen die neureichen Russen – in den Büchern bevorzugt von den Dunklen verkörpert –, die mit Goldkettchen behangen sind, sich sündhaft teuren Kaviar leisten können und bevorzugt Mercedes Benz oder Lambogini fahren.
Spätestens hier merkt man Lukianenko seinen früheren Beruf als Psychiater deutlich ein. Er charakterisiert seine Heimat auf ironische Weise menschlich und patriotisch, ohne dabei jedoch in Nationalismus zu verfallen. Da gibt es z.b. in "Wächter der Ewigkeit" die leicht senile, ehemalige Pilotin Tamara, die im 2. Weltkrieg stolz Bomben auf die Faschisten geworfen hat und immer noch fleißig Briefe an die Genossen Stalin, Kalinin, Chruschtschow und Breschnew schreibt – ohne natürlich zu merken, dass diese schon lange nicht mehr unter den Lebenden sind. Es sind vor allem die Kleinigkeiten, die Lukianenkos Bücher so liebenswert machen. Da steckt der Teufel wahrlich im Detail!


Das alles ist jedoch nur Schmuck für die Botschaft der Romane, die lautet: Wer immer du bist und als was auch immer du geboren wurdest; bleib immer du selbst und gib auf deine Menschlichkeit acht. Hast du sie einmal verloren, führt kein Weg zu ihr zurück.

Dies gilt für die Lichten wie Dunklen unter uns.


Der "Wächter"-Zyklus ist in Deutschland trotzdem immer noch ein Geheimtipp, denn in die Bestsellerlisten schaffen es die Bücher außerhalb von Russland kaum. Dennoch hat der HEYNE Verlag schon einige von Lukianenkos neueren und auch älteren Büchern herausgebracht. Zu beachten sei hierbei, dass die meisten Jugendromane von Lukianenko nicht bei HEYNE erscheinen, sondern bei Beltz. (Manche Bücher erscheinen auch bei beiden Verlagen.)