Anarchismus & Tolkien



Ich seh insgeheim schon wieder wie mir die Genossen den Vogel zeigen. Tolkien und Anarchismus, das geht gar nicht! Erst recht nicht, wenn einige der Mit-Anarchos zu gern Professor Tolkien Rassismus, Faschismus und Antisemitismus nachweisen wollen. Denjenigen zeige ich dann in der Regel den Vogel - nicht nur als Tolkien-Nerd, sondern auch als Anarchist. 

Wie komme ich also auf die krude Idee eine feudale Welt wie Mittelerde mit dem geheiligten A-Wort zu verbinden? 

"Der Herr der Ringe" gehört zu den wenigen Werken der Weltliteratur, dass unabhängig von Kulturkreis, Sprache, Zeit und Gesellschaft funktioniert. Tolkien erfreut sich global einer ungebrochenen Beliebheit, unabhängig von gesellschaftlichen Schichten und Bildungsgrad. 

Wenn sich ein Stoff über Jahrzehnte in der globalen Popkultur halten kann, dann hat das in der Regel mit der Geschichte selbst zutun. Und das obwohl Tolkien als alter Keltenliebhaber durchweg sehr europafixiert ist. Dennoch findet das Buch sowohl in Südostasien wie auch in afrikanischen Staaten großen Anklang. Es ist also kein rein westliches Buch. Ähnliches gilt für weltweite Erfolge wie Harry Potter. Es ist dem Europäer durchaus schwer zu erklären warum pakistanische Mädchen trotz Terrorgefahr über Stunden in Islamabad vor einem Buchladen ausharren, wenn es doch anscheinend wichtigere Probleme gibt als das Lesen einer augenscheinlichen Fantasygeschichte ohne eindeutigen Realitätsbezug.
  
Zum einen liegt das daran, dass der Herr der Ringe ebenso wie Harry Potter als Hauptfigur einen völlig normalen Menschen hat. Im Falle von Frodo Beutlin ist er sogar so normal, dass jeder Spieser neidisch werden kann. Er hat keine Zauberkräfte, ist weder besonders mutig noch besonders stark und sein Schwert Stich trägt er nur mit sich herum damit es ihn vor Orks warnen kann - denn kämpfen das kann Frodo nicht wirklich. Es gibt gerade einmal zwei Szenen in denen Frodo sein Schwer benutzt und das dann auch eher unbeholfen nach dem Motto "Das spitze Ende muss in den anderen rein!" 
Sprich, Frodo könnte genauso gut ich sein oder du oder Liselotte Meyer aus der Rosenstraße 8. Es würde keinen Unterschied machen.

Das Prinzip vom unbeholfenen Dorfjungen, der von weltpolitischen Ereignissen überrannt wird ist seit jeher ein sehr beleibtes in der klassischen Fantasy und gab es bereits vor Tolkien. Auch in der klassischen Mythologie kommt das Motiv öfters vor. In der Arthuslegende etwa weiß der ahnungslose Bengel nix von seinem Glück bis Zauberer Merlin ihn als Königssohn einweiht und ihm das Schwert aus dem Stein ziehen lässt.

Auffällig sowohl in der Mythologie wie auch der klassischen Fantasy; es gibt immer einen weisen, alten Mann, der dem Jüngling mit Rat zur Seite steht - in 99% der Fälle natürlich nicht uneigennützig. Ob nun Merlin, Gandalf oder Dumbledore - der große Manipulator kleidet sich oft in Unschuld. 

Tolkien greift in seinem Hauptwerk viele Motive aus der Mythologie auf. Ein Grund warum das Buch weltweit funktioniert liegt eben in der Mythologie begründet, denn weltweit entstanden zwar unterschiedliche mythologische Versionen von Sagen, Legenden und Märchen unter den unterschiedlichsten Namen, doch insgesamt wiederholen sich die Geschichten in sehr ähnlicher Form, unabhängig vom Kulturkreis. Der Grundplot vom Jüngling, der zu unvorhersehbaren abenteuern mit weltpolitischen Dimensionen aufbricht ist daher eine globale Menschheitsgeschichte.

So weit, so gut, aber was hat denn das jetzt mit Anarchie zutun? Immerhin leben alle in Mittelerde unter Königen und Fürsten. Schlimmer noch, die guten Völker sind alle hellhäutig und die bösen Völker dunkelhäutig. Es gibt einen großen Bösewicht, der nur Macht will und auf seinem Weg dahin alles verwüstet. Und zu allem Überfluss auch noch seinen Ring, quasi die Atombombe Mittelerdes, verloren hat und natürlich wiederhaben will. (Wer wöllte das auch nicht?)

Bei dieser Konstellation ist der Faschismusvorwurf immer nicht weit - insofern man sich nur völlig oberflächlich mit dem Stoff beschäftigt.  

Tolkien war kein Anarchist. Er war Katholik und verarbeitete seine traumatischen Erlebnisse des Ersten Weltkriegs in dem Buch. In erster Linie sieht man das an der Art und Weise wie das Böse auftritt. Entweder in gesichtlosen Horden von Soldaten oder in Form einer böswilligen Industrialisierung, die alles Grün verschlingt und nur kahles Ascheland zurücklässt. 

Tolkien schrieb gern in Sinnbildern. Die Armeen Saurons und Sarumans arbeiten sich ohne Gnade wie Maschinen durch die Schlachtfelder. Die Soldatenproduktion ist industrialisiert, ebenso gnadenlos wie der Krieg selbst. Dagegen stehen die anderen Völker aus Menschen, Elben und Zwergen. Allesamt feudale Gesellschaften, die sich über die Vorgehensweise gegen Sauron nicht einigen können, weil uralte Zwiste zwischen ihnen stehen. Der entscheidende Punkt für mich als Anarchist ist dabei nicht, dass diese Armeen weiß oder schwarz oder lila gepunktet sind, sondern dass diese Armeen sich zwar auf dem Schlachtfeld gegenüber stehen, aber ohne Sieg. Der Sieg gegen diese Tötungsmaschine geht von dem kleinen Hobbit aus, der glaubt er allein könne nichts verändern und von seiner Bürde, den Ring in den Vulkan zu werfen, beinahe erdrückt wird. Dazu kommt noch seine Begenung mit Gollum, der von der Macht des Ringes korrumpiert wurde. Der Hauptzwist des Buches besteht ja nicht darin, dass sich die feudalen Gesellschaften mehr oder weniger ehrenvoll die Schädel spalten, sondern wie Frodo dem Macht des ringes wiedersteht, wie er immer wieder versucht den vom Ring seelisch zerstörten Gollum zu helfen, dabei oft selbst am Abgrund landet und nach seiner fast schon selbstmörderischen Reise ins Herz der Bestie endlich die Korruption der Macht vernichtet. Die Hoffnung, die am Ende besteht ist nicht die, dass irgendwelche Feudalherren die Weltherrschaft an sich reisen, sondern das die Korrumpierung durch das Streben nach unendlicher Macht selbst von der Welt getilgt wird. Und das hat, selbst wenn Tolkien das nicht beabsichtigt hat, etwas sehr ur-anarchistisches. Nämlich, der Gedanke, dass Macht korrumpiert und aller Macht deshalb einhalt geboten werden muss. Nicht umsonst wird immer wieder darauf hingewiesen wie der Ring selbst edle Könige verdorben und zu Sklaven Saurons gemacht hat. Etwa Isildur, der sich nicht vom Ring trennen konnte und das letztendlich mit dem Tod bezahlte. 

Auch der Kampf der Natur gegen die Zerstörung durch die Industrialisierung ist bei Tolkien ein großes Thema. Die Natur in Form der Ents, die zum Schluss Sarumans Kriegsfarbriken einfach fortspülen. Ein großartiges Motiv gegen die Naturzerstörung und den zu Tolkien Zeit skrupellos in alle Lebensbereiche eindringenden Kapitalismus. 

Das alles sind fundamentale Themen, die keine Faschismusdebatte einfach so abwickeln kann, denn Tolkien ist eben mehr als Leute mit Schwertern, die bösen Monstern auf den Kopf hauen. Es liegt eine große, urgewaltige Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und dem Ende der Unterdrückung in Tolkiens Werken. Und das ist eben durchaus anarchistisch. ;)